Aus dem Leben  ·  Erinnerungen

Vielseitiger Einsatz in Truns

1942 hatte Gieri Foppa in Truns als Primarlehrer und Dirigent des Musikvereins gekündigt. Die Wahl zu seinem Nachfolger fiel auf Eduard Lombriser. Zwei Jahre später meldete sich dieser für die frei gewordene Stelle an der Sekundarschule und wurde gewählt, unter der Bedingung, dass er das Sekundarlehrer-Patent nachholen würde. Nach zwei Semestern an der Universität Freiburg durfte Eduard Lombriser mit dem Unterrichten beginnen.

Bis zur Erlangung des Patents hiess es fortan: Während der schulfreien Sommermonaten Studium an der Universität Freiburg, in den Wintermonaten Arbeit in der Schulstube. Als einziger Lehrer an der Sekundarschule musste er sämtliche Fächer unterrichten. Daneben leitete er den Musikverein, dirigierte einen Männerchor, spielte in der Kirche die Orgel und amtete als Theaterregisseur. In dieser Zeit entstanden auch seine ersten Kompositionen.

1. Eine neue Komposition als Eröffnungslied

Herbst 1945. Nach zwei Semestern an der Universität Freiburg kann ich mit dem Unterrichten an der Sekundarschule in Truns beginnen. Vor mir sitzen erwartungsvoll dreiunddreissig Schülerinnen und Schüler, verteilt auf drei Klassen, die ich in allen Fächern zu unterrichten habe. Sogleich spüre ich: «Mit diesen Klassen musst du ausserhalb des Unterrichts etwas unternehmen!»

Meinen Kollegen Alfons Vinzens, der sich bereits als begabter Dichter entpuppt hat, ermuntere ich, ein Theaterstück zu schreiben. Als Inhalt wünsche ich mir eine Handlung, die sich auf einer Alp abspielt. Er lässt sich dafür begeistern, geht gleich an die Arbeit und nach wenigen Wochen habe ich den Dreiakter mit dem Titel «L'unfrenda dil paster» (das Hirtenopfer) auf dem Tisch.

Im romanischen Kalender «Il Glogn» entdecke ich das Gedicht «La canzun dil signun» (Das Lied des Sennen), ein Gedicht unseres Dorfpfarrers Gion Battesta Sialm. Eine ideale Vorlage für die Vertonung eines passenden Eröffnungsliedes! Ich beginne die ersten Verse zu vertonen. Nach ein paar Tagen ist das dreistimmige Lied für Schülerchor fertig.

Die Aufführung wird ein grosser Erfolg. Mit den Einnahmen können die drei Klassen nach Abschluss des Schuljahres eine dreitägige Schulreise finanzieren. Den Höhepunkt dieses Ausflugs erleben wir am ersten Tag in Zürich. Im Radiostudio singen wir mit Direktübertragung einige romanische Lieder, darunter auch «La canzun dil signun».

Auch dem Dirigenten des Männerchors, Serafin Bundi, gefällt das Lied. Auf seinen Wunsch entsteht eine durchkomponierte und anspruchsvolle Fassung für leistungsstarke Männerchöre. Richtig bekannt wird das Lied nach einer Radioaufnahme, gesungen vom Trunser Männerchor unter der Leitung von Albert Decurtins.

2. Seuchenwärter in den Schulferien

Im Kanton Graubünden dauert das Schuljahr vom 1. Oktober bis Ostern. Für die Lehrer bedeutet das knappe sechs Monate unbezahlte Ferien. Im Jahr 1939 verbreitet sich im Kanton Graubünden die Maul- und Klauenseuche, eine gefürchtete ansteckende Infektionskrankheit der Huftiere. Diagnostiziert der Kantonstierarzt auf einer Alp diese Krankheit, wird die ganze Herde liquidiert und vor Ort begraben. Gegen die Verbreitung der Seuche werden Massnahmen ergriffen. Am Eingang und am Ausgang bestimmter Dörfer wird die Strasse mit einem breiten Streifen Sägemehl belegt. Dieser Streifen muss mit einem Desinfektionsmittel feucht gehalten werden, um die Räder der Fahrzeuge zu desinfizieren. Das ist die Aufgabe des Seuchenwärters, meine Arbeit in den unbezahlten Ferienwochen.

Die erste Woche als Seuchenwärter verbringe ich in Surcuolm, einem Ort zwischen Obersaxen und Ilanz. Der Tageslohn reicht knapp für die Bezahlung von Kost und Logis im einzigen Gasthof des Dorfes. Länger dauert mein Aufenthalt in Vella im Lungnerzertal. Hier die gleiche Arbeit: Ich muss das Sägemehl feucht halten und die Schuhe der Passanten mit der gleichen Tinktur besprühen: Für mich eine leichte, manchmal sogar lustige Arbeit. Weniger lustig ist die Situation auf der Alp. Ein Metzger muss dort jeden Tag die schönsten Rinder töten. Immer wieder begegne ich weinenden Bauern.

3. Aufbauarbeit für wenig Lohn

Im Januar 1943 wählt mich die Musikgesellschaft Truns zu ihrem Dirigenten. Der Verein hat in den letzten Jahren darunter gelitten, dass immer wieder Musikanten oder auch der Dirigent wegen Aktivdienst abwesend waren. Zudem kümmerte sich während der Kriegsjahre kaum jemand um den Nachwuchs. Eine schwierige Aufgabe mit einem kriselnden Verein erwartet mich!

Der Verein zählt 23 Mitglieder, darunter etliche ältere Musikanten, die jüngeren mit mangelhafter Ausbildung. So mache ich mir von Anfang an zur Aufgabe, für Bläsernachwuchs zu sorgen. Da ich die oberen Klassen unterrichte, gelingt es mir leichter, die Knaben für einen Bläserkurs zu gewinnen – Frauen sind in einem Musikverein noch nicht erwünscht.

Den Anfang mache ich mit sechs Schülern. Instrumente stellt uns niemand zur Verfügung, aber irgendwie können die Schüler selber verstaubte Instrumente auftreiben. Allmählich verbessert sich nicht nur die Quantität des Vereins, sondern auch die Qualität. So kann ich im Jahre 1960, beim Wegzug nach Laufen, meinem Nachfolger einen stolzen Verein von vierzig Musikanten übergeben.

In den siebzehn Jahren arbeite ich für Proben, Konzerte und Jungbläserkurse fast ehrenamtlich. Einzig für meine Arbeit als Dirigent erhalte ich eine kleine finanzielle Anerkennung. Einmal im Jahr erfolgt der Zahltag: In den ersten vier Jahren zwei Franken pro Probe, dann – in Anbetracht meiner Leistungen - erfolgt eine Aufbesserung meines Honorars um einen Franken.

Bei diesen drei Franken bleibt es etliche Jahre, bis ich um eine weitere Aufbesserung bitte. In meiner Abwesenheit beschliesst die Generalversammlung – nicht ohne Murren – eine Lohnerhöhung. Bis zu meiner Kündigung und meinem Wegzug aus Truns erhalte ich einen Fünfliber pro Probe. Trotzdem, mit diesem Verein sind viele musikalische Erfolge und gesellschaftlich erfreuliche Erinnerungen verbunden.

4. Der Weiler Darvella mit einem eigenen Männerchor

Darvella liegt zwischen Trun und meinem Geburtsort Tiraun. Zur Zeit des zweiten Weltkrieges ist dieser Weiler ein stark bevölkerter Ort mit grossen Familien und etlichen guten Sängern. Die meisten sind Mitglieder des Männerchors Trun (60 Sänger), die Übrigen des Männerchors Zignau (45 Sänger). In Darvella, direkt an der Kantonsstrasse, hat eine ledige Frau im Parterre ihres Hauses ein Barlokal eingerichtet. Man kann hier die üblichen Getränke konsumieren. Besonders die Männer von Darvella nützen gerne die Gelegenheit zu einem Plauderstündchen am runden Tisch.

So ist es auch an jenem Abend nach einem Festanlass. Alle ein wenig angeheitert und bester Laune, kommen wir auf das Bezirksgesangsfest zu sprechen, das im Frühjahr 1947 in Disentis stattfinden wird. Da sage ich auf einmal: «Wenn ich so überlege, dann könnte Darvella, inklusiv drei Sänger von Tiraun, auch einen Männerchor auf die Beine stellen, es hätte ja in jeder Stimme ein paar gute Sänger.» Die Antwort: «Gute Idee, wenn du dich als Dirigent zur Verfügung stellst, übernehmen wir die Organisation.» Meine Reaktion: «Ich bin einverstanden, unter der Bedingung, dass keiner die Proben in den anderen Chören vernachlässigt!» Die Anwesenden sind von diesem Plan begeistert.

Schon einen Tag später kommt die Meldung: «Es klappt! Mit wenigen Ausnahmen sind alle dabei!» – Jetzt folgt die wesentliche Frage: «Wann und wo halten wir unsere Proben ab?». Der Vorschlag eines Sängers: «Ich stelle meine Stube zur Verfügung. Allerdings fehlt ein Klavier oder ein Harmonium!» Für mich spielt das keine Rolle, denn ich bin nicht unbedingt auf ein Tasteninstrument angewiesen. Für die nun folgenden Aufgaben der Organisation braucht es aber einen Vorstand. Auch dieses Problem ist mit einem willigen Dreigespann sofort gelöst.

Mit welchem Lied ans Gesangsfest? Die einheitliche Meinung: Mit einem einheimischen Produkt! Die Dichterin Ludivica Lombriser von Tiraun ist sofort bereit, für diesen Anlass ein Gedicht zu verfassen. Nach wenigen Tagen übergibt sie mir das Gedicht mit dem Titel «Miu uclaun» (Mein Weiler), gemeint ist der Weiler Darvella. Dann wage ich mich an die Komposition des Textes, meine erste Komposition für einen Männerchor. Der Auftritt am Sängerfest in Disentis überzeugt die Juroren. Mit Goldlorbeeren kehrt der Chor am Abend nach Hause.

Mit eigenen Kompositionen habe ich auch später an anderen Sängertagen Erfolg. Das Konzertleben des Männerchors Darvella ist sonst eher bescheiden: Auftritte am Ort, bei Hochzeiten oder um den Einheimischen eine Freude zu bereiten. Der letzte Auftritt, der Chor zählt 40 Mitglieder, erfolgt 1960 am Sängerfest in Trun mit der Eigenkomposition «Dumengia» (Sonntag). Am nächstenTag nehme ich mit meiner Familie endgültig Abschied vom Bündnerland.

5. Ein bewegendes Lied zum Abschied

Zum Abschied schreibt Sekundarlehrer Paul Tomaschett in der Gasetta Romontscha:

«... Eduard Lombriser, diese musikalische Kraft, dieser hervorragende Dirigent und erfahrene Lehrer hat von unserem Dorf Abschied genommen. Ergreifend war der Abschied am letzten Schultag. Wenn ein guter Lehrer die Schulstube verlässt, verbreitet sich Melancholie. Sein schönstes dreistimmiges Lied, «O cara Surselva», sangen seine Schüler zum Abschied. Wie er eingestand, hat dieser Vortrag ihn tief bewegt, fast hätte er gewünscht, dieses Lied nicht komponiert zu haben ...»

Kurzzusammenfassung des Liedtextes:
«Lebe wohl, geliebte Surselva. Lebe wohl, du romanisches Volk. Dir werde ich auch in der Ferne treu bleiben!»