Aus dem Leben  ·  Erinnerungen

Hartes Brot in schwierigen Zeiten

Kurz vor Ende des 1. Weltkrieges wurde Eduard Lombriser am 21. Oktober 1917 in Tiraun-Zignau, einer Fraktion von Truns, geboren. Es waren wirtschaftlich schwierige Zeiten. Sein Vater war Schreiner. Die Kundschaft jedoch blieb aus. Wer getraute sich schon in diesen Krisenjahren in Neubauten oder in Anschaffungen neuer Möbel Geld zu investieren? Durch Gelegenheitsarbeiten, im Winter als Waldarbeiter, im Sommer monatelang auf einer Alp als Senn, schaffte er es immer wieder, mit einem bescheidenen Einkommen die siebenköpfige Familie zu ernähren.

1. Sieben Personen in zwei Schlafzimmern

Tiraun, mein Geburtsort, liegt auf der linken Talseite auf einer sonnigen Terrasse. Wir bewohnen auf engstem Raum ein Zweifamilienhaus. In einem Zimmer schlafen die Eltern und die Schwestern Carlina und Monica, im zweiten Zimmer schlafe ich mit meinen Brüdern Anton und Josef. Die Schlafzimmer sind nicht geheizt. Im Winter wärmen wir vor dem Schlafengehen auf dem Specksteinofen Säcklein, die mit Kirschsteinen gefüllt sind. So können wir im Bett die Füsse einigermassen warm halten. Für die Notdurft müssen wir uns ins Freie begeben. Hinter dem Haus benutzen wir ein Plumpsklo. Der Kot bleibt wochenlang in der Abortgrube liegen, bis er irgendwann auf eine Wiese geführt wird.

2. Der Vater leidet unter Schwerhörigkeit

Sein Leben lang leidet Vater Sepantoni infolge einer Kinderkrankheit unter Schwerhörigkeit. Wegen dieser Behinderung meidet er lärmige Lokale und Veranstaltungen. Gemeindeversammlungen besucht er zwar regelmässig, nimmt aber Platz in der vordersten Reihe, zeitweise die Hand hinter einem Ohr haltend, um die Worte des Präsidenten oder der Gemeinderäte zu verstehen.

Begreiflich, dass der Vater oft schlechter Laune oder deprimiert ist. Die Beziehung zu uns Kindern ist dadurch etwas distanziert. Und es ist üblich, dass Kinder ihre Eltern mit «Sie» ansprechen. Es ist ein Zeichen der Ehrfurcht. Nicht einmal später, als Erwachsene, getrauen wir uns die Eltern mit «du» anzusprechen.

3. Die Mutter findet den richtigen Ton

Gottesfürchtig wie sie ist, kennt Mutter Mariuschla nur ihre Pflichterfüllung der Familie und der Kirche gegenüber. Sie ist als friedfertiger Mensch bekannt: Keinen Streit mit Nachbarn, kein sich Einmischen in fremde Angelegenheiten. Sie findet immer den richtigen Ton. Auch auf den Vater, der einen autoritären Stil pflegt, hat sie einen besänftigenden Einfluss.

Die Mutter hat dauernd Schmerzen wegen ihrer offenen Wunden an den Beinen. Oft vernehme ich nachts ein leises Wimmern im Elternzimmer. Es ist die Mutter, die von Schmerzen geplagt nicht schlafen kann. Und doch treffen wir sie pflichtbewusst am Morgen in der Küche, das Morgenessen für uns bereit auf dem Tisch.

4. Unversehrte Landung

Frühling! An einem Abhang, hundert Meter oberhalb des Weilers Tiraun, steckt meine Mutter Kartoffeln. Mit dabei mein dreijähriger Bruder Anton, meine zweijährige Schwester Monica und ich, halbjährig, im Kinderwagen.

Auf einmal beginnt Anton am Kinderwagen zu hantieren. Irgendwie gelingt es ihm, diesen in Richtung der Häuser zu drehen. Der Wagen setzt sich in Bewegung und rast immer schneller dem Haus meiner Grosseltern entgegen, meine Mutter laut schreiend hinterher.

Kurz vor dem Haus stürzt der Wagen über eine Mauer. Ich werde hinaus geschleudert und lande unversehrt auf der Bank neben dem Hauseingang. Zehn Meter mehr rechts und ich wäre dreissig Meter tiefer auf die Kantonsstrasse oder in den Rhein gefallen.

5. Schlittenfahrt in den Tod

Ein trauriges Ereignis! Meine Schwester Monica, ein Jahr älter als ich, besucht die erste Klasse. An einem sehr kalten Wintertag darf sie ihren um ein Jahr älteren Bruder Anton für einen Botengang in den nächsten Weiler begleiten. Da der Schnee hart gefroren ist, nehmen sie den Schlitten mit. Vielleicht gibt es eine Gelegenheit für eine Spritzfahrt!

Auf dem Heimweg steigen die Kinder einen Abhang hinauf. Es lässt sich so gut laufen auf dem hartgefrorenen Schneeboden! Plötzlich reisst Monica den Schlitten an sich, setzt sich darauf und gleitet mit immer grösserer Geschwindigkeit die Halde hinunter. Mit ihren kurzen Beinen kann sie nicht bremsen. Mit voller Wucht prallt sie gegen ein Scheunentor.

Nach fünf Tagen stirbt die Schwester im Spital Ilanz an den Folgen ihrer schweren Verletzungen. Damals gibt es noch keine Leichenwagen. So bittet der Vater den Bauern Demund von Darvella, die Verstorbene mit Ross und Wagen nach Hause zu bringen. Der Vater begleitet ihn bei diesem schweren Gang.

Mit schwerem Herzen hält an jenem Tage die Mutter Ausschau nach Ross und Wagen. Wie sie den Zug in der Ferne erblickt, sagt sie zu mir: «Jetzt darfst du bis zur Brücke hinunter gehen, sie bringen die tote Monica in einem weissen Sarg nach Hause.» Ich eile hinunter und warte unsicher am Ende der Brücke.

Der Vater, der mit dem Fuhrmann neben dem Wagen schreitet, schaut mich traurig an. Ohne ein Wort zu sagen, packt er mich an den Schultern, hebt mich empor und setzt mich für die letzte Wegstrecke auf den Sarg. Da der Weg zu unserem Haus hinauf für Ross und Wagen zu steil ist, muss der Vater den Sarg selber hinauf tragen.

Der Bauer Demund von Darvella verzichtet auf eine Belohnung für den Leichentransport. Das hat mein Vater nie vergessen. Es beschäftigt ihn noch in seinen alten Tagen, die er in Chur bei der Tochter Carlina verbringt. So nimmt er eines Tages Feder und Papier zur Hand und schickt ihm einen Dankesbrief und eine Zwanzigernote.

6. Der kleine Sänger von Tiraun

Ich bin sechs Jahre alt und habe eine recht schöne Stimme. Lieder lerne ich in kurzer Zeit auswendig. Im Dorf spricht sich das schnell herum. So kann es passieren, dass mich Leute auf der Strasse auffordern ein Lied zu singen. Meistens erfülle ich diesen Wunsch. Und so habe ich bald den Übernamen «Der kleine Sänger von Tiraun».

Dies hat sich sogar bis nach Ilanz herumgesprochen. Für zwei Wochen verbringe ich dort Ferien bei einer Tante. Täglich muss ich mit einem Eimer in die Käserei um Milch zu holen. Und jedes Mal heisst es: «Ah, der kleiner Sänger von Tiraun! Sing uns ein Lied vor!» Hat die Tante etwas verraten?

Nach einer Woche habe ich genug von der Singerei. Ein Bekannter gibt mir den Tipp: «Du musst für das Vorsingen Geld verlangen!» Am anderen Tag in der Käserei: «Sing uns ein Lied vor!» Ich: «Was zahlen Sie dafür?» Natürlich erhalte ich nichts, dafür zu Hause von meiner Tante eine Predigt. Von da an hat der «kleine Sänger von Tiraun» nie mehr vorgesungen.

7. Der fatale Axthieb

Es geschieht an einem Winternachmittag. Ich, acht Jahre alt, bin alleine zu Hause mit meinem vierjährigen Bruder Josef. Vor unserem Haus liegt ein Haufen Holzscheite, die gespaltet werden müssen. Es reizt mich mit dieser Arbeit zu beginnen. Eine Axt ist da, im Holzstock eingeschlagen. Ich stelle einen Klotz auf den Holzstock, packe die Axt, erhebe sie zum Schlag. Da streckt Josef blitzartig seine rechte Hand aus, um den Klotz für sich zu erhaschen. Aber bereits fällt die Axt herunter und erwischt seine Hand, die stark zu bluten beginnt.

Erschrocken beginnen wir Zeter und Mordio zu schreien. Im Nachbarhaus hört eine Frau unser verzweifeltes Gebrüll, springt herbei, hält die Hand unter die Brunnenröhre und verbindet sie anschliessend notdürftig. Der getroffene Zeigefinger hängt herunter, der Knochen ist durchschnitten. Josef muss in seinem Leben mit einem verkürzten, gelenklosen Finger auskommen. In der Schule gelingt ihm auch mit dem Mittelfinger eine schöne Schrift. Und die Behinderung ist auch später kein Hindernis in seinem Beruf als Schneider.