Aus dem Leben  ·  Erinnerungen

Zucht und Ordnung im Schulzimmer

Die Primarschule besuchte Eduard Lombriser in Zignau. Der Unterricht erfolgte im Mehrklassenprinzip. Die Erstklässler sassen vorne, die Viertklässler hinten. Der Lehrer war eine Autoritätsperson. Derjenige galt als tüchtig, bei dem in der Schulstube Zucht und Ordnung herrschte. Die Auslagen für das Schulmaterial mussten die Eltern selber berappen.

1. Religionsunterricht in Zignau

Zweimal in der Woche haben wir Religionsunterricht bei unserem Dorfkaplan, einem grossen, schlanken Mann mit dunkler Brille. In seinem langen schwarzen Priesterrock flösst er uns Respekt ein, aber nicht unbedingt Vertrauen. Unsere persönlichen Probleme und Sorgen interessieren ihn nicht. In ihm schlägt nur ein Beamtenherz.

Pflichtgetreu vermittelt er uns die Grundkenntnisse des christlichen Glaubens. Da die Eltern schon genug Sorgen haben, wollen wir sie nicht mit einer schlechten Note betrüben. Deshalb pauken wir ohne Begeisterung die Fragen und Antworten des Katechismus. Mehr Freude haben wir an der Bibelgeschichte.

2. Folgenschwere Missachtung einer Ermahnung

Es ist an einem sonnigen Märztag, zwei Wochen vor Schulschluss. Die Mädchen haben Handarbeit, die Knaben zur gleichen Zeit Sport: Bei schönem Wetter Freiübungen und Spiele mit dem Ball im Freien. Fussball und Turngeräte kennen wir nicht!

Zwei Kilometer rheinabwärts hat unsere Turnstunde auf einer geeigneten Wiesenfläche stattgefunden. Den Heimweg dürfen wir selbständig begehen, mit der Ermahnung des Lehrers, auf keinen Fall den Rhein zu überqueren.

Vier von uns, zwei Buben ein Jahr älter, warten, bis der Lehrer ausser Sichtweite ist. Dann ziehen die zwei älteren Schuhe und Strümpfe aus, klemmen sie unter die Arme und waten so durch das strömende Wasser auf die andere Uferseite.

Es reizt uns zwei jüngere das Gleiche zu tun. Wenige Meter vor dem jenseitigen Ufer gerate ich plötzlich in eine Vertiefung. Der Länge nach falle ich ins kalte Wasser. Nass und fröstelnd habe ich kurz darauf festen Boden unter den Füssen. Und jetzt? In diesem Zustand nach Hause?

Einer der beiden älteren Schüler, der Kesslerbub, lädt mich zu sich ein. Seine Eltern bieten mir trockene Kleider an. Die riechen aber so komisch. Deshalb ziehe ich es vor, auf der Ofenbank Platz zu nehmen und dort zu warten bis die Kleider trocken sind.

Die Folgen melden sich am anderen Tag: Schmerzhafter Gelenkrheumatismus, der mich für den Rest der Schulwochen ans Bett fesselt. So verpasse ich sogar den Endschultag, den feierlichen Abschluss des Schuljahres mit Elternbesuch und Übergabe des Zeugnisses.

An diesem Tag wage ich zum ersten Mal ein paar Schritte vor das Haus. Da erblicke ich auf einmal meinen Lehrer. Er erkundigt sich nach meinem Gesundheitszustand und bringt mir mein Zeugnis und dazu, was mich besonders freut, eine Tafel Schokolade.

3. Weihnachtstage bei meinem Lehrer

Kurz vor Weihnachten im Jahre 1927. Unser Lehrer verkündet: «Weihnachten werde ich in Domat/Ems bei meinen Eltern verbringen. Möchte jemand von euch mitkommen?» Niemand meldet sich. Diese wohl als Scherz gedachte Einladung lässt mir aber keine Ruhe.

Daheim erzähle ich den Eltern von der Einladung des Lehrers. Der Vater denkt einen Augenblick darüber nach und spricht: «Du kannst dem Lehrer mitteilen, der Vater sei damit einverstanden, er übernehme die Bahnspesen.»

Scheu, aber innerlich erfreut, überbringe ich am anderen Tag dem Lehrer diesen Bericht. Was will dieser nun anderes tun, als zu seinem Anerbieten zu stehen! So fahren wir am 24. Dezember zusammen mit der Rhätischen Bahn nach Domat/Ems.

Die Familie Willi – die Eltern, zwei Brüder und eine Schwester meines Lehrers – wohnt in einem grossen Bauernhaus mitten im Dorf. Freundlicher Empfang! Zum Übernachten bekomme ich sogar ein eigenes Zimmer.

Was sich an den folgenden Tagen abspielt, ist für mich neu. Da mein Lehrer im Kirchenchor singt, darf ich am Heiligabend mit ihm auf die Empore steigen und von dort aus den Ablauf des Gottesdienstes mitverfolgen.

Am nächsten Tag begleitet mich der Lehrer nochmals in die Kirche und von dort auf den Kirchturm, wo ich die mächtigen Glocken bestaunen darf. Für mich sind es eindrückliche Weihnachtstage. Stolz und befriedigt kehre ich nach Hause zurück.

4. Star cul tgül sülla platta

Fünfte Klasse. Der Lehrer heisst Georg. Auch mein Banknachbar, der Sohn des Mesmers, heisst Georg. Ein mageres Bürschlein mit einer Hasenscharte. Wir sind dicke Freunde. Der Lehrer Georg ist etwas launisch und unberechenbar. Erwischt er einen guten Tag, kommen wir ohne blaue Flecken davon. Hat er aber eine kurze Nacht hinter sich, bekommen wir seine schlechte Laune schon am Morgen zu spüren. So wie an jenem Tag!

Der kleine Georg und ich sind fertig mit den Aufgaben. So nehme ich eine Broschüre hervor, die mein Vater aus dem Engadin mitgebracht hat. Wir stecken die Köpfe zusammen und beginnen zu lesen. Die lustigen Wörter in der ladinischen Sprache erheitern uns. Dann dieser komische Wortlaut: "Star cul tgül sülla platta". Uns entschlüpft ein schallendes Gelächter. Und schon naht das Gewitter.

Der grosse Georg donnert heran, packt den kleinen Georg, reisst die Türe auf und schleudert ihn gegen die Knaben-WC-Türe. Gleich darauf lande ich mit gleichem Schwung an der Mädchen-WC-Türe. Da sitzen wir zwei Delinquenten nebeneinander am Boden, schauen uns verdutzt an und - bekommen einen heftigen Lachkrampf. Wir beruhigen uns erst wieder, als die Türe aufgeht und der grosse Georg uns zurück ins Klassenzimmer beordert.