Aus dem Leben  ·  Erinnerungen

Fremdes Brot in den schulfreien Monaten

Damals hatten alle Schulkinder in der Surselva vom Frühling bis Herbst während fünfeinhalb Monaten schulfrei. Das Wort Ferien kannte niemand. Die Bauern konnten ihre Kinder für ihre vielfältigen Arbeiten gut gebrauchen. Für die Kinder der Handwerker- und Arbeiterfamilien wurde eine Stelle gesucht, es hiess also fremdes Brot essen. Wie bei seinen Brüdern Anton und Josef bedeutete das im Frühling für Eduard : Abschied nehmen für einige Monate von zu Hause.

Nach der 2. Klasse mit dem Vater auf der Alpnova im Albulatal
Nach der 3. Klasse als Gehilfe des Hirtenvogtes in Truns
Nach der 4. Klasse beim Altschmied und Kleinbauern Beer in Sedrun
Nach der 5. Klasse bei Sievi Derungs in Vignogn im Lugnezertal
Nach der 6. Klasse bei Giusep Derungs dil Mulin in Vignogn im Lugnezertal
Nach der 7. Klasse bei Giusep Derungs dil Mulin in Vignogn im Lugnezertal
Nach der 8. Klasse beim Kleinbauern Anton Locher in Sargans
Nach der 9. Klasse mit dem Vater auf der Alp Cuolm in Truns

1. Fast erstickt auf der Alpnova

Mit neun Jahren verbringe ich die Sommermonate mit meinem Vater auf der Alpnova im Albulatal. Käsen, Buttern und Kochen sind die Hauptaufgaben des Vaters. Während dieser Zeit muss ich das weidende Vieh im Auge behalten. Morgens und abends kommt ihm beim Melken ein Hirt zu Hilfe, der tagsüber an einem anderen Ort auf dieser Alp das Galtvieh hütet. Dieser übernachtet mit uns in der Hütte.

Im Parterre ist der Hauptraum mit genügend Platz für den grossen Käsekessel, für die Feuerstelle, für einige Stühle und den Esstisch. Eine Türe führt in den Keller, in dem auf langen Gestellen die Butterballen und Käselaibe aufbewahrt und gepflegt werden. Über eine einfache Holztreppe gelangt man in den grossen Dachraum zu unserer Pritsche hinauf. Als Bett dient eine Schicht dürres Heu mit einem Leintuch darüber.

Eines Abend, während ich oben schlafe, haben es die Männer besonders lustig miteinander. Sie merken nicht, dass von der Feuerstelle immer mehr Rauch aufsteigt und den Weg zu mir in den Schlafraum findet. Ich bekomme Mühe mit der Atmung und erwache mit heftigem Husten. Dem Vater geht ein Licht auf. Er merkt die Gefahr, springt die Treppe hinauf, packt mich unter die Arme und eilt mit mir ins Freie an die frische Luft.

2. Die schallende Ohrfeige

Wieder fünfeinhalb Monate Schulferien! Zum ersten Mal sollte ich mit zehn Jahren in dieser Zeit etwas verdienen und alleine an einem fremden Tisch essen. In Cartatscha, einem Weiler von Truns, hat der Vater bei einem Bauern eine Stelle für mich gefunden.

Wir befinden uns mit den Kühen auf dem Heimweg. Ich muss vorne den Zug dirigieren. Auf einmal haben sich die Kühe rechts und links von der Strasse in den Stauden und Sträuchern verteilt. Wutschnaubend taucht plötzlich mein Patron vor mir auf und verabreicht mir eine schallende Ohrfeige.

Beim nächsten Heimbesuch erzähle ich den Vorfall meinen Eltern. Dieser Bericht macht meinen Vater nachdenklich. Nach kurzem Überlegen spricht er:«Sollte etwas Ähnliches nochmals passieren, darfst du heimkommen.»

Zwei Wochen später ist es so weit. Wieder bekomme ich die kräftige Hand meines Vorgesetzten zu spüren. Mutig schaue ich ihn an und melde mich ab mit den Worten: «Jetzt reicht es. Ab sofort können Sie die Kühe alleine hüten!»

Zu Hause treffe ich nur die Mutter in der Küche an. Fröhlich, fast stolz stehe ich da mit der umgehängten Provianttasche und mit dem Hirtenstock in der Hand. Freundlicher Blick meiner Mutter, aber kein Kommentar. Sie weiss, für das weitere Vorgehen ist der Vater allein zuständig, und dieser kommt erst am Mittag zum Essen heim.

Der Vater, erstaunt mich hier anzutreffen, hört sich meinen Bericht ruhig an. Ein steifer Blick. Er kämpft innerlich mit einer Entscheidung. Dann folgt das für mich niederschmetternde Urteil: «Wir probieren es noch einmal. Ich rede heute Abend mit deinem Patron.»

Das Gespräch zwischen den beiden Männern erfolgt im Flüsterton. Ich verstehe kein Wort. Irgendwie sind sie aber miteinander einig geworden. Die Unterredung mit dem Vater muss doch etwas genützt haben, denn von nun an werde ich anständig behandelt, so dass ich meinen Dienst wie vereinbart nach fünf Monaten beenden kann.

*Ein ähnliches Erlebnis hatte Josef, Eduards jüngerer Bruder. Der zehnjährige Bub verbrachte die Sommermonate bei einem Bauern in Degen, im Lugnezertal. Dieses Ereignis hielt Eduard Lombriser in Gedichtform fest, zuerst in rätoromanischer Sprache; später folgte eine deutsche Fassung.*

3. Josefs Flucht

1. Es war im Jahre einunddreissig,
als unser Josef, Bürschlein fleissig,
in Degen war als Knecht gedungen, -
doch eines Tages war verschwunden.

2. Er war ein Bub, geschickt und flink,
ja gar beweglich wie ein Fink,
und seine Meistersleut', zwei Alten,
als brave Bäuerlein sie galten.

3. Gar willig war das Knechtelein,
wohl nie es machte was geheim.
In Küche half und auch im Stall,
man konnt‘ ihn brauchen überall.

4. Doch zweifelte sein Meister ‘mal
an seiner Ehrlichkeit - fatal!
Dann konnt‘ der Junge aufbegehren
für seine Ehre wild sich wehren.

5. Was hat sich da einst zugetragen?
Der Bub sollt‘ gar gestohlen haben
die Pfeife seines guten Herrn,
als dieser war für Stunden fern!

6. «Du hast die Pfeife mir stibitzt,
gib' es nur ehrlich zu, verflixt!
Hier auf dem kleinen Tisch sie lag,
das ist fürwahr kein Freudentag!»

7. «Mein lieber Herr, da muss ich sagen,
Sie können mich dafür verklagen!
Da sind Sie auf der falschen Spur,
ich weiss von nichts, so glaubet’s nur!»

8. Doch Zweifel sind nun da und bleiben,
nicht lassen sich so rasch vertreiben.
Der Alte mürrisch, kaum ein Wort,
dies macht unheimlich hier den Ort.

9. Des Nachts er schmiedet einen Plan,
er denkt an Flucht vor diesem Mann.
Am nächsten Morgen soll’s geschehen,
sollt’s regnen auch und Winde wehen.

10. Kaum ist der Meister wieder weg,
der Seppli greift zum Bleistift keck,
Papier natürlich auch muss her,
dann folgt die Meldung hinterher:

11. «Jetzt bin ich meiner Ehr beraubt,
Sie haben mich als Dieb geglaubt.
Nicht länger mehr will ich hier bleiben,
müsst selber nun die Kühe treiben!»

12. Gefranst, zerlöchert gar die Hosen,
als würd‘ er bitten um Almosen,
die strenge Reise nimmt in Kauf,
steigt stramm zum Piz Mundaun hinauf.

13. Durch Obersaxen führt der Weg,
muss laufen über manchen Steg.
Und Stund' um Stunde noch verstreicht,
bis er das Elternhaus erreicht.

14. Da netzen Tränen das Gesicht,
wenn er von Flucht und Unschuld spricht.
«Nun soll der Alt‘ die Kühe hüten
und über seine Zweifel brüten!»

15. Gefühlvoll tröstet ihn die Mutter,
Kaffee serviert ihm, Brot und Butter.
Sie lächelt nur, ‘s gibt keinen Krach,
nicht schlimm war ja die ganze Sach‘.

16. Doch härter muss der Vater sein.
«Nicht bleiben darf der Bub daheim,
er soll zurück am andern Tag,
die Mutter ihn begleiten mag!»

17. Ein schöner Morgen steigt herauf.
Ja, nun beginnt der harte Lauf.
Zurück zu Fuss zu jenem Tal,
das wieder heisst «Lugnezertal».

18. Des Knechtes Arbeit geht bald weiter,
sogar der Meister zeigt sich heiter.
Im Herbst, mit fünfzig Franken Lohn,
kehrt heim des Sepantonis Sohn.

4. Zwei sonderbare Rituale

Frühling 1928. Für Lombrisers Buben heisst es wieder während eines halben Jahres fremdes Brot essen. Für mich hat der Vater eine Stelle in Sedrun beim Altschmied und Kleinbauern Beer gefunden, beim «fravi Mengit», wie ihn die Einheimischen nennen. Der Vater begleitet mich nach Sedrun und lernt so meine Meistersleute kennen. Dann verabschiedet er sich von mir mit einem kurzen Händedruck und guten Wünschen.

Die Familie Beer ist gesegnet mit sechzehn Kindern. Zu Hause leben noch zwei erwachsene Söhne und eine Tochter. Herr Beer ist eher klein von Statur und hat einen rötlichen Vollbart. Frau Beer, eine urchige und korpulente Tavetscherin, hat das weisse Haar in einem Zopf um den Kopf gedreht. Ihr langer Rock reicht ihr bis zu den Schuhen. Schon in den ersten Tagen mache ich mich vertraut mit zwei sonderbaren Ritualen.

Am Abend sitzen wir alle in der Stube. Dabei sind auch einige Nachbarn. Frau Beer hat sich auf der Ofenbank, ihrem Lieblingsplatz, gemütlich gemacht. Auf einmal bückt sie sich ein wenig nach vorne. Es folgt ein Salve wie von einem Maschinengewehr. Ein Lachen unterdrückend warte ich auf die Reaktion der Anwesenden. Aber offenbar kennen alle dieses Ritual und lassen sich dadurch bei ihrem Gespräch nicht aus der Ruhe bringen.

Noch mehr überrascht bin ich am anderen Morgen von einem zweiten Ritual. Wie bei uns zu Hause, gibt es auch im Hause der Familie Beer keine sanitären Einrichtungen. Der Plumpsklo befindet sich hinter dem Hause. Frau Beer wählt aber den kürzeren Weg. Sie tritt in ihrem langen Rock vor das Haus, spreizt die Beine und kurz darauf fliesst ein gelbes Bächlein die Pflastersteine hinunter. Andere Dörfer, andere Sitten!

5. Harte Arbeit im Lugnezertal

Nach dem 5. Schuljahr heisst es wieder eine neue Stelle antreten, diesmal in Vignogn im Lugnezertal bei Sievi Derungs. Frau Derungs, eine bekannte Köchin, die auch ein Kochbuch geschrieben hat, ist Sievis dritte Frau. Nachdem die ersten Frauen gestorben sind, soll Sievi gesagt haben: "«Solange Gott mir die Frau nimmt, werde ich eine weitere holen."»

Meine Arbeit: Hilfe im Stall und auf dem Feld. Die Frühjahrsarbeiten schätze ich weniger. Vor allem das Pflügen ist anstrengend. Rückwärts laufend muss ich zwei Rinder, die am Pflug angespannt sind, über die Wiese bis zur Grenze führen, nach einer ganzen Drehung die gleiche Strecke zurück und weiter hin und her bis die ganze Fläche umgepflügt ist.

Mehr schätze ich im Spätfrühling das Leben auf dem Maiensäss. Meine Aufgaben dort: Das Vieh hüten, nebenbei Handreichungen im Stall oder in der Hütte beim Kochen und Käsen, aber immerhin alles meinen körperlichen Kräften angepasst. Strenger ist es dann im Sommer, wo es gilt an den steilen Hängen beim Heuen zu helfen.

Für Herbstarbeiten reicht es nicht mehr. Ende September werde ich von meinem Dienst entlassen, da wenige Tage später ein neues Schuljahr beginnt. Froh kehre ich heim, in der Innentasche meines Kittels fünfzig Franken als Belohnung für meinen Einsatz während fünfeinhalb Monaten. Willkommenes Geld für meine Eltern. Mein Geldbeutel bleibt leer!

6. Kuhfladen als Isolationsmaterial

Truns und Zignau haben zwei schöne Kuhalpen auf einer Höhe von 1'800 Metern, genannt «Nadels Davon» (Vordernadels) und «Nadels Dadens» (Hinternadels). Das Galtvieh hat im Hochsommer seinen Weideplatz noch ein paar hundert Meter höher auf der Alp Cuolm. Hier lässt sich der Vater im Sommer 1933 als Galtviehhirt anwerben. Da ich wegen der bevorstehenden Aufnahmeprüfung ins Lehrerseminar keine längere Stelle annehmen kann, stehe ich während drei Monaten dem Vater als Gehilfe zur Verfügung.

Als Unterkunft dient uns eine elende kleine Steinhütte. Der Platz darin reicht gerade für die gemeinsame Pritsche, für ein Tischlein und für die Feuerstelle. Keine Bäume und keine Sträucher auf dieser Höhe! Somit müssen wir das Holz zum Feuern von der Alp Nadels hinauf tragen. Die Wände der Hütte sind schlecht isoliert. An den nicht selten kalten und windigen Tagen bekommen wir das besonders zu spüren. Mit Kuhfladen, die wir auf der Weide sammeln, stopfen wir notdürftig die Wandritzen.

Bei Schönwettertagen geniessen wir das Alpleben. Nur der Klang der Viehglocken durchbricht die Stille auf der einsamen Höhe. Ganz in der Nähe der Hütte beobachten wir das Treiben der Murmeltiere und bestaunen die wunderbare Flora. Aber auch ein paar richtige Wintertage erleben wir dort. Für das Vieh gibt es keine Unterschlupfgelegenheit. Wir müssen die Tiere in einen Pferch zwängen, eine ummauerte Fläche. Hier müssen sie ohne Nahrung ausharren - bis der Schnee weg ist und das Gras wieder zum Vorschein kommt.